Besuch

[115] Er trat in meine Kammer ein,

Freundlich, schlicht, ohne Heiligenschein.

Aber unter allem Volke hätt'

Erkannt ich Jesus von Nazaret.

Gelassen rückt er von der Wand

Sich einen Stuhl an Bettesrand,

Schob ein wenig bei Seite das Licht,

Dass er mir besser säh ins Gesicht,

Und saß, ein Arzt, vor meinem Lager.

Die feine Hand, durchsichtig mager,

Lag mit sanftem Druck auf den Kissen,

Drin ich mit tausend Kümmernissen

Die Nacht durchwacht, und nun vor Schreck

Und Zweifel ob seines Kommens Zweck

Aufrecht saß und verwundert starrte,

Und seines ersten Wortes harrte.


Er ließ mich nicht lange die Augen aufreißen,

Sprach schlicht, warm, ohne Glanz und Gleißen.

Alle hundert Jahre einmal

Käm' er aus seinem Sternensaal,

Müsst' einmal wieder Menschen sehn,

In Menschengestalt unter ihnen gehn,

Wieder der Erde Leiden tragen,

Und hier und da fürsorglich fragen:

Wie geht's, wo fehlt's, wo zwickt's am meisten?

Womit kann ich dienen und Hülfe leisten?[116]

Wo eine Seele in Nöten rang,

Das spürt er gleich auf seinem Gang,

Und hätte im Vorüberkommen

Auch mein einsames Klagen vernommen.

Ich sollte ihm alles dreist erzählen,

Meiner Seele Pein, mein täglich Quälen.


Da nahm ich denn kein Blatt vor den Mund,

Und that ihm meine Leiden kund,

Schloss mein gepresstes Herz ihm auf,

Und ließ dem Unmut freien Lauf.


Er sprach, ich kann deinen Schmerz verstehn,

Es giebt auf Erden nicht größere Wehn.

Du plagst dich mit deines Geistes Kraft,

Dass sie ein warmes Kleid dir schafft.

Du stehst unter allem Volk allein.

Hast Hunger, und sie bieten dir einen Stein,

Führen deinen Namen im Mund, dein Wort,

Aber kommst du selber, laufen sie fort,

Höhnen dich gar und dein Klagen.

So wirst du täglich ans Kreuz geschlagen.


Mit einem Wort, du bist ein Dichter

Unter zahllosem Schriftgelichter,

Bist ein Künstler im Deutschen Reich,

Und das kommt täglicher Folter gleich.


Als ich noch ging in Erdentracht,

Haben sie mir es anders gemacht?[117]

Und vor mir und nach mir, an allen Tagen,

Wurden die besten bespeit und geschlagen.

Wie haben so arg sie's mit mir getrieben!

Aber ich klammerte mich an mein Lieben,

Und noch am Kreuz, verendend, ich bat:

Vater, vergieb ihnen ihre That.


Aber was hat mein Opfer viel

Genützt? Es ist das alte Spiel,

Das alte Verharren in Kleinem, Gemeinem,

Das alte Verstocktsein vor Edlem und Reinem,

Das alte Rennen nach irdischem Gut,

Die alte Habsucht, Profitchenwut,

Die ohne Besinnen die heiligsten Dinge

Verschachert für dreißig Silberlinge,

Das alte scheinheilige Heuchlerpack

Im Pfaffenrock und Ministerfrack.

Und lass ich mich dreißigmal kreuzigen noch,

Es bleibt immer derselbe Pöbel doch.


So sprach er, erst leise, langsam, betrübt,

Gedenkend, was man ihm verübt.

Aber allmählich war aufgeloht

Auf Wangen und Stirn ein helles Rot.

Die blauen schönen Augen schickten

Blitze, die hagren Hände zwickten

Und zupften nervös der Decke Falten.

Schwer konnt' er seinen Zorn verhalten.


Tiefatmend schwieg er einmal ganz

Und bohrte die Blicke mit starrem Glanz[118]

Auf das Kruzifix, das hing

Über dem Bett mir, ein hölzern Ding,

Klein, unansehnlich und roh.


Dacht' er der Zeit, wo er duldete so?

Ein tiefer, rührender Schmerzenszug

Ging wie ein Wolkenschattenflug

Über sein Antlitz, aber nur kurz.

Dann sprang er auf, und mit schnellem Sturz

Sprudelten ihm die Worte hervor:


Sei kein blöder, weichherziger Thor!

Raffe dich auf und stemme dich fest,

Und den Stock zur Hand, das ist das Best'!

Noch heute schwellt es mir die Brust,

Noch heute denk ich des Tages mit Lust,

Wo mir der Hass in die Fäuste fuhr,

Wie ich den Schafen die Pelze schur,

Männlich, kräftig, das Tauende schwang,

Hei! wie die ganze Herde sprang.


Das ahme nach! da war ich groß!

Aller Liebe und Lauheit los.

Mit Peitschen musst du das Volk regieren,

Willst du nicht das Spiel verlieren.

Und macht's so mein himmlischer Vater nicht auch,

Nach uraltem bewährtem Brauch?

Lässt seine Blitze und Donner spielen,

Dass sie zitternd rutschen im Staub der Dielen.

Als ich von ihm die Gunst erbat,[119]

Auf die Erde zu tragen der Liebe Saat,

Nach meinem Ermessen es zu probieren,

Geh, sprach er, du wirst das Spiel verlieren.

Ich brauche Schwefel, Schwert und Fluchen,

Und du willst sie lenken mit Zucker und Kuchen?


Er hatte recht, und so rat' ich dir,

In diesem einen folg ihm und mir:

Mach dich nicht klein, wahr deinen Wert,

Demut, Bescheidenheit, sind nicht geehrt.

Hochfahrend dem Volk, den Fuß auf den Nacken,

Brutal musst du die Menschen packen.

Und wollen sie wider dein Edles blöcken,

Wider deines Geistes Stachel löcken,

Den Strick zur Hand und die Faust erhoben,

Und mein Vater und ich, wir freuen uns oben.

Und nun lebe wohl. Ich weiß nebenan

Noch einen leidgepressten Mann.

Will ihm ein ähnlich Rezept verschreiben.


Dann winkt' er, ich sollte liegen bleiben,

Mich nicht bemühen, er fände schon aus.

Und wie er gekommen, ging er hinaus.


Quelle:
Gustav Falke: Mynheer der Tod. Hamburg 1900, S. 115-120.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mynheer der Tod
Mynheer Der Tod Und Andere Gedichte (German Edition)

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Agrippina. Trauerspiel

Agrippina. Trauerspiel

Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.

142 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon